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Kritik an der Lärmgesellschaft

von Friedrich Herzer,
1. Vorsitzender der Gesellschaft für humane Luftfahrt (GhL)

These: Lärm, ein Grundproblem unserer Zeit, ist heutzutage nicht mehr nur als reine subjektive Betroffenheit zu sehen, Lärm ist für alle ein Kennzeichen unserer Gesellschaft geworden, die sich als modern und sozial definiert, im Bezug auf den Schutz ihrer Bürger vor „auditiver Gewalt“ aber erschreckend rücksichtslos ist.

Unsere moderne Gesellschaft verdient den Titel einer „Lärmgesellschaft“ nun nicht, weil ihre Individuen immer empfindlicher und anspruchsvoller würden, sondern weil Zahl und Intensität der Störungen zugenommen haben, weil die Wahrscheinlichkeit, mit Geräuschen konfrontiert zu werden, zu dem man sich noch „positiv“ verhalten kann, abgenommen hat. Es genügt deshalb längst nicht mehr, seinen Frieden mit dem „Lärm“ zu machen, indem man ihn mit positiver innerer Einstellung in bloße „Geräuschkulisse“ zurück verwandelt.

Die Ruhestörungen haben Dimensionen angenommen, die ein gesellschaftspolitisches Umdenken erfordern, das zur Zeit aber überhaupt nicht in Sicht ist.

Menschen wollen an sich keinen Lärm, denn wer ein bestimmtes Geräusch Lärm nennt, sagt schon, dass er zum Geräusch in einem ablehnenden Verhältnis dazu steht. Lärm ist zuweilen Ansichtssache, die entsprechende Klage manchmal subjektiv und nicht immer konsensfähig. Es macht deshalb auch wenig Sinn, die subjektive Störungswirkung zu quantifizieren, ihr durch Messen der dB-Zahl auf die Spur kommen zu wollen. Es gibt keine Geräuschkulisse, die sich beim Überschreiten einer gewissen Dezibelmarke automatisch in Lärm verwandelt.

Anzeichen für die nicht-subjektive Seite des Lärms sind natürlich die wissenschaftlich nachgewiesenen Gesundheitsschäden, die durch die Geräuschflut der modernen Gesellschaft entstehen. Gegen den beliebten Versuch, den Lärm lediglich als Problem der jeweils Betroffenen und Belästigten, d.h. als Folge individueller Konstitution und persönlicher Tagesform abzutun, sprechen nun die Ergebnisse der aktuellen Lärmwirkungsforschung.

Ein großer Teil des heute erzeugten Krachs ist nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv völlig unnötig. Die Überzeugung, dass es sich bei den gegenwärtigen Geräuschkulissen in der Regel um eine Widerspiegelung nötiger Arbeits-, Produktions- und Fortbewegungsprozesse handelt, gehört zu den Grundlügen unserer Technologie-Welt.

Lärm ist heute nicht nur von anhaltender Dauer, sondern auch allgegenwärtig. Verlärmt sind nun auch jene Nischen, in denen man bislang vor akustischen Belastungen verschont blieb. Handys bimmeln, Hubschrauber dröhnen, selbst in den abgelegensten Regionen. Damit entsteht Unfreiheit, weil die Fähigkeit des Hörens - im Unterschied zu der des Sehens – aufgrund fehlender Abschaltbarkeit der Hörorgane „unbeabsichtigt“ ist. Rund um die Uhr ist man zur Geräuschaufnahme gezwungen, man muss einfach hören.

Ein „Lärmterror“ herrscht nun oft auch an den vermeintlich ruhigen Lebensorten, den Siedlungen auf dem Land. Wie in der Stadt, ist „Stille“ auch hier inzwischen ein spektakulärer Sonderfall, vor dem manche geradezu erschrecken, wenn er einmal vorliegt.

Oft besteht kein direktes Verhältnis zwischen Lautstärke bzw. Dauer eines akustischen Ereignisses - und der zugrunde liegenden Zweckerfüllung und Bedeutung. Durch die oft sinnlose Geräuschflut der technischen Zivilisation wird der individuelle Wunsch, vor Lärm geschützt zu werden zu einem gesellschaftlichen Anliegen, zu dessen Berücksichtigung sich Politik und Gesetzgebung eigentlich verpflichtet fühlen müssten. In der Umweltpolitik bleibt man hierbei allerdings passiv, gerade auch in Deutschland.

Ein einheitliches Anti-Lärmgesetz, das an den Quellen des Lärms ansetzt, gibt es hierzulande bis heute nicht. Viele Regelungen stammen noch aus den 70er Jahren. In den zuständigen Behörden wird Lärm nicht bekämpft, sondern lediglich verwaltet. Die Hauptbeschäftigung der zuständigen Beamten besteht darin, Durchschnittspegel zu berechnen und Sondergenehmigungen auszustellen – etwa für eine „Loveparade“.

Warum setzt eine Gesellschaft, die offen zugibt, unter Lärm zu leiden, nicht alles daran, die auditiven Belastungen auf das notwendige Mindestmaß zu beschränken?

Überhaupt:Warum gibt es keine Anti-Lärmbewegung, etwa analog zur Anti-Atombewegung? Warum wird Natur- und Tierschutz zum Staatsziel erhoben, die Produktion von Lärm aber als Kavaliersdelikt abgetan?

Für das unzureichende Problembewusstsein gibt es folgende Erklärungsmöglichkeiten:

  • Die erste Erklärung: Man hat sich an den Lärm gewöhnt, man ist gegenüber den immer zahlreicher werdenden Umweltgeräuschen längst immun geworden. Die Medizin geht aber davon aus, dass sich der Organismus an laute Umweltgeräusche zwar anpassen, nicht aber gewöhnen kann.
  • Die zweite Erklärung: man hält den Kampf gegen den Lärm der modernen Welt für aussichtslos ; man hat resigniert und fügt sich in sein vermeintliches Schicksal, mit immer dauerhafteren Beschallungen leben zu müssen.
  • Bleibt die dritte, eine eher psychosoziale Erklärung, dass es einen unter der Oberfläche wirkenden „sinnlichen Bezug“ zum Lärm gibt und die Verantwortlichen in Politik und Gesetzgebung diesem Bezug indirekt Rechnung tragen wollen.

Denkbar ist : es existiert eine im Wesen mancher Menschen verwurzelte, kulturgeschichtlich begründbare Ehrfurcht vor dem Lärm - und gleichzeitig eine Angst vor Stille. Man respektiert ein Übermaß an Krach, weil es als Beweis für die „freie Selbstentfaltung“ einer Gruppe oder eines Individuums dient.

Der Straßenverkehrslärm, der Fluglärm, aber auch der Freizeitlärm sind zu Kennzeichen der modernen Welt geworden und damit auch zum gesellschaftlichen Problem. Den entscheidenden Impuls erhielt die Lärmkritik nun durch den unaufhaltsamen Aufstieg des Automobils, des Flugzeugs und elektroakustischer Geräte. Automobil und Flugzeug individualisieren die maschinelle Fortbewegung und machen sie somit zum Privileg und zum Privatvergnügen.

Festzustellen ist schließlich: Lärm ist inzwischen nicht mehr nur auf seine gewohnten Orte beschränkt. Der heutige Lärm beginnt, seinen üblichen zeitlichen und örtlichen Bezug allmählich aufzugeben und letztlich eine allgegenwärtige Geisel zu werden.